PD Dr. Marc Muschler im Gespräch

Gerontopsychiatrie

Hilfe für die kranke Seele

Depression, Schizophrenie, Angststörung, Verdacht auf Demenz – die Gerontopsychiatrie des Klinikums Braunschweig ist auf ältere seelisch kranke Menschen spezialisiert. puls war zu Besuch auf Station.

Text: Prem Lata Gupta
Fotos: Nick Neufeld
Illustrationen: Lars Heppner/MMA

PD Dr. Marc Muschler bevorzugt für die Visite das direkte Gespräch im Arztzimmer.

Zwei ältere Menschen starren gebannt auf den Monitor und versuchen die Frage, die dort steht, zu lösen. „Welches Wort passt als Anfang vor allen drei Begriffen?“ Diese lauten: Schlag, Betrag, Funktion. Ich überlege mit – als Journalistin, die jeden Tag mit Sprache arbeitet, müsste mir doch die Antwort einfallen! Die beiden sind schneller. „Fehl“ heißt die Lösung. Hirnleistungstraining ist nur ein Angebot während der Ergotherapie, die gerade stattfindet. Andere Patientinnen und Patienten der Abteilung Gerontopsychiatrie malen, freihändig oder nach Vorlagen wie einem Mandala. Zwei nebeneinandersitzende Männer werkeln an 3D-Puzzles aus Holz.

„Es geht nicht um den Schwierigkeitsgrad, sondern um das Tun“, erklärt mir Ergotherapeutin Kim Kleinert. Wer zu Hause völlig antriebslos im Bett gelegen hat, der lerne schrittweise während seines stationären Aufenthaltes, wieder einen Tagesrhythmus zu bewältigen. Ihre Kollegin Antje Büthe ergänzt: „Selbst etwas herzustellen, sich in Gesellschaft aufzuhalten, ins Gespräch zu kommen, all das macht die Teilnehmenden mit der Zeit mutiger und auch stabiler.“

Ergotherapeutin Frau Büthe

Ergotherapeutin Antje Büthe arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Gerontopsychiatrie.

Aktiv sein, Gespräche führen und Medikamente

Im Flur der Station 22 stehe ich vor einem großen Stundenplan mit verschiedenen Therapieeinheiten: Frühsport, Entspannungstherapie, Achtsamkeitsgruppe, Zeitungsgruppe, Genussgruppe, Abendrunde. Auch regelmäßige Visiten sind auf der Übersicht vermerkt. Zur Behandlung hier gehören ein strukturierter Tag, Kommunikation und Erlebnisse in der Gemeinschaft, Gruppen- sowie Einzelgespräche – und in jedem Fall auch Medikamente. „Einem Großteil der Menschen bei uns geht es nicht gut. Aber wir wollen sie nicht hospitalisieren, indem wir zulassen, dass sie sich in Ihre Krankheit zurückziehen. Stattdessen wollen wir ihre Widerstandskraft fördern“, betont Oberarzt PD Dr. Marc Muschler. Das Aufgabenspektrum der Gerontopsychiatrie, die über 17 Plätze verfügt, ist vielfältig. „Zu uns kommen Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf Demenz, andere haben Depressionen, manchmal mit dem Gedanken, sich etwas anzutun. Wir nehmen auch Frauen und Männer in starken Krisensituationen auf, die einen großen Verlust wie beispielsweise den Tod des Ehepartners nicht bewältigen können“, beschreibt Stationsleitung Cornelia Bastian die Bandbreite der psychischen Erkrankungen. Auch die Zeit nach dem Renteneintritt sei „eine ganz sensible Phase“. Mit großen Veränderungen könnten Ältere oft nicht mehr gut umgehen, über die Jahre gehe Flexibilität verloren, erläutert Bastian. Dazu kommen Erkrankte mit wahnhaften Symptomen, die unter einem ausgeprägten Realitätsverlust leiden – verstörend für sie selbst und ihr Umfeld: Manche Betroffenen hören Stimmen, auch wenn da keine sind, andere sind fest davon überzeugt, dass sie verfolgt werden. Bei ihnen ist ein Therapieerfolg ohne Medikamente in der Regel nicht möglich, erfahre ich von PD Dr. Muschler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Erkrankte fahren testweise nach Hause

Die Behandlung in der Gerontopsychiatrie erfordert ein multiprofessionelles Team aus Ärzteschaft, geschulten Pflegekräften, Fachleuten aus Psychologie, Ergo- und Musiktherapie. Auch eine Sozialarbeiterin gehört dazu, denn immer steht die Frage im Raum, wie es nach der Entlassung weitergehen soll, ob sich das häusliche Umfeld eignet, ob eventuell eine rechtliche Betreuung nötig ist.

Viele gehören schon lange zum Team, so auch Corinna Brandenburger. 26 Jahre bereits arbeitet die ausgebildete Krankenschwester in der Psychiatrie, elf davon am Klinikum Braunschweig. Sie nennt mir besondere Aufgaben neben der gerontopsychiatrischen Pflege: „Ich mache Medikamententrainings mit Patientinnen und Patienten und begleite und motiviere sie in Erprobungssituationen, etwa beim Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder wenn sie testen wollen, wie es sich anfühlt, ein, zwei Tage zu Hause zu sein.“

An diesem Vormittag nimmt sie an einer Visite teil. Anders als sonst im Krankenhaus findet sie nicht am Bett, sondern im Arztzimmer statt. Als die erste Patientin den Raum betritt, geht es zunächst um ihren Blaseninfekt, also ihr körperliches Befinden, dann um die Psyche. Die Frau leidet unter Depressionen – die Ergotherapie als Teil des Pflichtprogramms würde sie sich heute gern ersparen. Doch der Oberarzt der Gerontopsychiatrie hält dagegen: „Wenn Sie allein auf Ihrem Zimmer sind, lässt sich das Gedankenkarussell nicht unterbrechen. Wie wäre es mit Krankengymnastik, um Sie zu aktivieren?“, fragt er. Als PD Dr. Muschler den Vorschlag macht, als Belastungserprobung das nächste Wochenende zu Hause zu verbringen, weicht sie seinem Blick aus. „Das traue ich mir nicht zu.“

Ganz anders die 81-Jährige, die ihm wenig später gegenübersitzt. Seit Jahren schon nimmt sie wegen einer schweren Depression Medikamente, führt sonst ein selbstständiges Leben. Jetzt ist sie hier, weil sie das Mittel eigenmächtig abgesetzt hat und sofort in ein tiefes Loch gefallen ist. „Ich konnte nicht mehr aufstehen, mochte nichts essen und nichts trinken.“ Vor zehn Tagen wurde sie stationär aufgenommen. „Hier fühle ich mich gut aufgehoben“, sagt sie. Sie nimmt wieder ihre Medikamente und weiß, wie wichtig das ist. Bei nächster Gelegenheit möchte sie für zwei Tage nach Hause, um zu schauen, wie sie allein klarkommt. Sie lächelt mich an: „Und um mir andere Kleidung zu holen.“

PD Dr. Marc Muschler

PD Dr. Marc Muschler

Leitung der Gerontopsychiatrie und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

3D-Puzzle

Ein wenig Geschick und auch Durchhaltevermögen erfordern die hölzernen 3D-Puzzles.

Diagnose Demenz

Depressionen lassen sich behandeln. Nicht so Demenz. Besteht ein Anfangsverdacht findet in der Gerontopsychiatrie des Klinikums Braunschweig zunächst die Diagnostik statt: Dazu gehören eine sorgfältige Anamnese, Laboruntersuchungen, international standardisierte Tests, die von Ärzteschaft, Psychologinnen und Psychologen vorgenommen werden. Probandinnen und Probanden sollen einen Würfel dreidimensional zeichnen, Tiere benennen, ihr Kurzzeitgedächtnis beweisen. Dr. Marc Muschler kann sich an eine Patientin erinnern, deren Tochter sie „schusselig“ genannt hatte. Er sagt: „Während der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Frau nicht wusste, in welchem Jahr sie lebte und in welcher Stadt.“ Abschließende Gewissheit bringt nach diesen Tests eine Punktion des Nervenwassers. „Finden sich darin bestimmte Proteine, ist das der Beweis.“

Steht Demenz als Diagnose fest, ist dies oft ein Schlag für die Angehörigen. Bedrückend ist das Ergebnis auch für die Betroffenen, die zu Beginn der Erkrankung noch über Einsicht in ihre Situation verfügen. Stationsleitung Cornelia Bastian setzt gerade in dieser Phase auf einen sehr behutsamen Umgang mit diesen Patientinnen und Patienten. Da brauche es eine empathische Ansprache. Sie setze sich dann dazu, ein Gespräch auf Augenhöhe sei wichtig. Man könne ins Gespräch einsteigen mit dem Satz „Ich weiß, dass Sie erschrocken sind …“. Ob ich das auch könnte, frage ich mich. Cornelia Bastian kennt die Scheu und die Unwissenheit vieler Menschen, wenn es um ihre berufliche Tätigkeit geht. So einfühlsam sie sich im Job verhält, so klar ist sie gegenüber Außenstehenden. Am meisten beeindruckt hat mich ihre Aussage zum Abschluss meines Besuchs: „Psychisch Kranke sind überall, nicht nur im Klinikum – auch im Supermarkt oder in der Straßenbahn.“

Frau Kleinert

Eine Tasse Tee in der Werkstatt für alle, die mögen, und immer ein offenes Ohr: Kim Kleinert ist die Teamleiterin in der Ergotherapie.

Depression: Selbsttest gibt erste Hinweise

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Depressionen im Alter

Altersdepressionen sind keine Seltenheit. Unter den 60- bis 64-Jährigen sind bereits mehr als jede fünfte Frau und fast jeder sechste Mann betroffen. Der höchste Anteil wird mit 27,7 Prozent bei den 80- bis 84-jährigen Frauen erreicht, so eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. Depressionen und Demenz sind die häufigsten psychischen Erkrankungen bei älteren Menschen. Intensive, lang anhaltende Stimmungstiefs lassen sich recht gut mit Medikamenten und Psychotherapie behandeln. Es stehen unterschiedliche Wirkstoffe zur Verfügung, auch gilt es, die richtige Dosis zu finden. Schlagen Medikamente bei schwer Erkrankten nicht an, bleibt noch die Möglichkeit der Elektrokonvulsionstherapie (EKT), also ein Verfahren zur Hirnstimulation mittels Stromimpulsen. Der Laie kennt sie nur aus Filmen. Es ist viel zu wenig darüber bekannt, dass es sich um eine leitliniengerechte, sehr wirksame Therapie handelt, die an Universitätskliniken und großen Krankenhäusern wie dem Klinikum Braunschweig angewandt wird. Dies geschieht in Narkose, außerdem erhalten Patientinnen und Patienten ein muskelentspannendes Mittel. Nach dem Hirnstimulationsverfahren setzt meist eine schnelle Besserung des Befindens ein, die Nebenwirkungen sind gering.

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