Wartende, die in der Notaufnahme ausflippen, tiefe Leere oder nagende Frustration, wenn eine Reanimation im Schockraum nicht gelungen ist: Immer wieder kommt es zu belastenden Situationen im Klinikalltag. Mitarbeitende sind mit Angriffen gegen sich konfrontiert, mit schwersten Verletzungen oder gar Tod. Gemeint sind Ereignisse, die über den üblichen Stress hinausgehen und die individuell nicht einfach zu bewältigen sind. Deshalb haben Maik Pritschke und Michael Papendieck, beide verantwortlich für das Deeskalationsmanagement im Klinikum Braunschweig, das Projekt M.U.T. initiiert. Das Konzept orientiert sich an der psychosozialen Notfallversorgung, wie es sie auch für Mitglieder von Feuerwehr oder Rettungsdienst gibt. M.U.T. steht mit seinen drei Großbuchstaben für Mitarbeiterunterstützungsteam. Damit sind nicht Pritschke und Papendieck selbst gemeint, sondern eine Gruppe von 15 Menschen, von denen alle selbst am Klinikum in unterschiedlichen Bereichen arbeiten. Sie haben sich freiwillig dafür gemeldet, wurden durch einen externen Fachmann in Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen, Kommunikation und Gesprächsführung tagelang geschult, auch durch Rollenspiele.
„Je eher ein Gespräch stattfindet, desto besser“
„Bei uns laufen die Meldungen auf, wenn etwas Besonderes passiert ist und jemand Unterstützung benötigt“, erklärt Maik Pritschke. Er oder sein Kollege gehen seit Jahren schon vor Ort, lassen sich den Vorfall schildern, stehen Betroffenen bei. Nun gibt es Verstärkung, denn die beiden schauen, wer aus dem M.U.T.-Team geeignet ist, sich gemeinsam mit der Kollegin oder dem Kollegen nochmals mit der beunruhigenden Situation auseinanderzusetzen. Oder wer Betroffene einfach darüber reden lässt, ganz in Ruhe.
Pritschke: „Je eher solch ein Gespräch stattfindet, desto besser lassen sich langfristige Auswirkungen verhindern. Das ist durch Studien belegt.“ Denn traumatische Erlebnisse können Schuldgefühle auslösen, es können sich Ängste entwickeln oder Vermeidungsstrategien bis dahin, dass jemand nicht mehr imstande ist, auf einer bestimmten Position zu arbeiten. Ziel des Deeskalationsmanagements ist es, innerhalb von 72 Stunden einen Kontakt zu jemandem aus dem M.U.T.- Team herzustellen. Damit dies auch tatsächlich funktioniert, wurden Mitglieder aus beiden Klinikumsstandorten und auch Schichtdienstmitarbeitende ausgewählt.
Untereinander auf sich aufpassen
Sylvia Stanik jedenfalls macht mit bei M.U.T. Sie hat sich auf den Aufruf im Mitarbeiterportal spontan gemeldet. Als Physician Assistant im Interdisziplinären Notfallzentrum (INZ) am Klinikum hat sie schon oft erlebt, wie schwierig der Umgang mit Personen ist, die unter Drogen- und Alkoholeinfluss stehen, wenn diese aggressiv werden oder eine Kooperation mit Ärzteschaft oder Pflegefachkräften verweigern. Sie war auch schon mehrfach dabei, als ein großes Team im Schockraum um einen Schwerverletzten gekämpft hat und sein Leben doch nicht retten konnte, „das kann sehr belastend sein“. Neben ihrer Arbeit ist die 46-Jährige ehrenamtlich außerdem in der Notfallseelsorge der Feuerwehr Braunschweig tätig. Dazu kommt jetzt ihr Engagement bei M.U.T. „Krisenintervention halte ich für sehr wichtig.“ Und sie ist überzeugt: „Man muss auch untereinander auf sich aufpassen.“
Die Idee, kollegiale Hilfe im Krankenhaus zu etablieren, hat die Vorgesetzte von Maik Pritschke und Michael Papendieck von Anfang an unterstützt. Dr. Helena Auber, die das Institut für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin leitet, weiß um den Stellenwert von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Dr. Auber: „In der Zeit nach einer extremen Belastungssituation ist ein verständnisvolles und zugewandtes Verhalten von Führungskräften sowie Kolleginnen und Kollegen besonders wichtig – es kann betroffenen Personen helfen, sich emotional zu stabilisieren und psychischen Beeinträchtigungen vorzubeugen.“ Auch die Geschäftsleitung des Klinikums Braunschweig ließ sich von dem Projekt überzeugen. Papendieck: „Das ist ein wertvolles Signal. Damit zeigt ein Arbeitgeber, dass er belastende Vorfälle ernst nimmt.“
Er und sein Kollege räumen ein, dass ein einziges Gespräch nach extremen Stress-Situationen nicht jedes Mal ausreicht. Manchmal seien mehrere Kontakte notwendig. Belastend kann ein Erlebnis übrigens – und das beinhaltet die nächste M.U.T.-Schulung im November – sogar für eine ganze Gruppe sein. So ist es passiert, dass ein Wachmann mit einer Pistole bedroht wurde. Maik Pritschke unterstreicht: „Alle, die das gesehen haben, waren schockiert.“

Dr. Helena Auber
Leitung des Instituts für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin

Maik Pritschke (links) und Michael Papendieck als Beauftragte des Deeskalationsmanagements haben das M.U.T.-Projekt initiiert.
Informative Links
- https://www.dguv.de/kompakt/ausgaben/2024-6/interview/index.jsp
- https://www.deutsche-traumastiftung.de/trauma/
- https://www.psychenet.de/de/psychische-gesundheit/themen/trauma.html
- https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs/
- https://sbe-ev.de/index.php/de/
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