Gewebespenden
Wenn von Transplantation die Rede ist, denken die meisten Menschen an Körperorgane. Die Bedeutung von Gewebespenden ist weniger bekannt, mit ihnen werden Verletzungen und Erkrankungen behandelt.
Interview: Prem Lata Gupta
Dr. Garritsen, Sie sind Chefarzt des Instituts für Klinische Transfusionsmedizin am Klinikum Braunschweig, und Sie, Frau Wartenberg, arbeiten am Klinikum als Gewebespendekoordinatorin für die Deutsche Gesellschaft für Gewebetransplantation (DGFG). Was ist Ihre wichtigste Botschaft?
Nelly Wartenberg: Der irreversible Hirnfunktionsausfall, früher Hirntod genannt, als Voraussetzung für eine mögliche Organentnahme tritt nur selten auf. Alle anderen Menschen sterben durch Herz-Kreislauf-Stillstand. Theoretisch könnten sehr viele von ihnen Gewebe spenden – vorausgesetzt, sie haben dies verfügt oder ihre Angehörigen sind der Auffassung, das wäre im Sinne der oder des Verstorbenen gewesen.
Dr. Henk Garritsen: Kaum jemand macht sich gern Gedanken über den eigenen Tod. Aber es würde uns wirklich helfen, wenn Menschen mit anderen nahestehenden Personen über ihre Wünsche sprächen.
Welches Gewebe kann man nach dem Tod spenden?
Nelly Wartenberg: Zum Beispiel Augenhornhaut, Herzklappen, große Blutgefäße wie die Aorta oder die Oberschenkelarterie – darauf konzentriert sich die DGFG, für die ich tätig bin, in ihrer Zusammenarbeit mit dem Klinikum Braunschweig. Weitere Gewebe, die wir darüber hinaus in unserem bundesweiten Netzwerk entnehmen, sind Knochen, Sehnen und Bänder.
Zur Person
Nelly Wartenberg ist Biologin und in der Region Nord Koordinatorin bei der Deutschen Gesellschaft für Gewebetransplantation (DGFG). Diese gemeinnützige Gesellschaft hat ein Netzwerk aufgebaut, zu dem zahlreiche Kliniken gehören. Auch das Klinikum Braunschweig ist seit 2010 Kooperationspartner. Um möglichst nah am Ort des Geschehens zu sein, hat Nelly Wartenberg ein eigenes Büro am Klinikum, sie arbeitet hier bereits seit 2016.
Dr. Henk Garritsen ist Chefarzt des Instituts für Klinische Transfusionsmedizin. Er arbeitet seit 23 Jahren am Klinikum Braunschweig. Auf seinem Fachgebiet ist er Mitglied eines renommierten Gremiums: BEST Collaborative (Biomedical Excellence for Safer Transfusion) hat als internationale Forschungsorganisation zum Ziel, durch globale Studien Transfusionen von Blutprodukten und zelluläre Therapien weltweit zu standardisieren und sicherer zu machen.
Warum Augenhornhaut, Herzklappen und Blutgefäße hier in Braunschweig?
Dr. Henk Garritsen: Wir haben uns früh spezialisiert. Herzklappen werden zunächst aufbereitet. Das muss in einem qualifizierten Reinraumzentrum geschehen. Darüber hinaus verfügen wir am Klinikum Braunschweig über entsprechend qualifizierte Mitarbeitende. Anschließend wird das kardiovaskuläre Gewebe, bis es von der DGFG vermittelt und an seinen Bestimmungsort gebracht wird, bei minus 130 bis minus 150 Grad Celsius in unserer Gewebebank tiefgefroren und gelagert.
Nelly Wartenberg: Jährlich benötigen mehr als 9000 Menschen bundesweit eine Spenderhornhaut – wegen schwerwiegender Erkrankungen oder Verletzungen der Hornhaut. Weil sich immer mehr Kliniken in unserem Netzwerk engagieren und die Bereitschaft zur Gewebespende wächst, haben sich die Wartezeiten von über einem Jahr auf etwa drei bis sechs Monate verkürzt.
Wird eine am Klinikum Braunschweig gespendete Herzklappe denn auch hier zur Behandlung genutzt?
Dr. Henk Garritsen: Das ist kürzlich erst vorgekommen. Ansonsten schaut die DGFG anhand ihrer Warteliste für Anforderungen aus dem gesamten Bundesgebiet, wo die Not am größten ist und zu wem das Transplantat passt. Bei der Aufarbeitung von kardiovaskulärem Gewebe durch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter läuft übrigens eine Kamera mit. Dieser Film geht an das Team der Herz-/Thoraxchirurgie, um die Qualität des Materials gemeinsam zu beurteilen. Es kann sein, dass eine Klappe bereits geschädigt ist. Wir testen nach dem Herauspräparieren auch die Schließfunktion.
Wer benötigt zum Beispiel eine Oberschenkelarterie als Spendermaterial?
Nelly Wartenberg: Menschen, die schon voroperiert sind, die bereits mehrfach Bypässe erhalten haben und bei denen sich die Gefäßprothese infiziert hat, oder solche, die unter Verschlusskrankheiten leiden. Eine humane Herzklappe ist gerade für junge Menschen oder Frauen mit Kinderwunsch am besten, da sie keine Einnahme blutverdünnender Medikamente oder Immunsuppressiva erfordert.
Dr. Henk Garritsen: Die Größe muss allerdings stimmen …
Nelly Wartenberg: Das stimmt. Hier kann die Klappengröße abhängig von Alter und Größe des Herzens variieren. Weiterer Vorteil für junge Patientinnen und Patienten: Menschliche Herzklappen können mitwachsen.
In welchem Zeitraum ist eine Gewebespende möglich?
Nelly Wartenberg: Nach Eintritt des Todes 36 Stunden lang bei Herzklappen und Gefäßen, bei Augenhornhäuten sogar bis zu 72 Stunden. Erforderlich ist auch eine Blutprobe für die Infektionsdiagnostik. Diese kann noch bis zu 24 Stunden postmortal entnommen werden.
Wie gelangen Sie denn an mögliche Gewebespenden?
Nelly Wartenberg: Ich bekomme elektronisch gemeldet, wenn jemand im Klinikum verstorben ist. Nach Durchsicht der Diagnostikunterlagen und weiterer Patienteninformationen kann ich abschätzen, wer eventuell für eine Spende geeignet ist. Es kommen Menschen ab drei Jahre bis ins hohe Alter für Hornhautspenden infrage. Die Altersgrenze für Gefäße und Aortenklappen liegt bei 70 Jahren und für Pulmonalklappen bei 80 Jahren. Nicht geeignet sind Patientinnen und Patienten mit einer HIV- oder Hepatitisinfektion, mit Alzheimer oder Parkinson. Wenn sie nicht Leukämie hatten, dürfen verstorbene Krebskranke ebenfalls Gewebe spenden. Ich frage die Familie, ob dies im Sinne ihres oder ihrer Angehörigen wäre. Es findet zusätzlich ein weiteres Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt der DGFG statt. Liegt eine Zustimmung vor, führen DGFG-Mitarbeitende die Entnahme durch.
Dr. Henk Garritsen: Es hat sich hier am Klinikum unter den Mitarbeitenden eine Haltung entwickelt, dass der Entschluss zur Gewebespende eine gute Sache ist. Wenn Familienmitglieder dies hören, bestärkt sie das zusätzlich.
Wie reagieren Hinterbliebene auf Ihre Anfrage?
Nelly Wartenberg: Unterschiedlich. Es ist wichtig für sie, zu erfahren, dass die Entnahme nicht sichtbar und immer ein würdiger Abschied möglich ist. Sehr schön hat eine Frau reagiert, die sagte, sie fände es wunderbar, dass noch einmal jemand durch die Augen ihres verstorbenen Mannes sehen könne.
Anzahl der gespendeten Gewebe im DGFG-Netzwerk in Deutschland im Jahr 2023
Augenhornhaut
Herzklappen
Blutgefäße
Knochen und Weichteilgewebe
Plazenta (Amnion)
Insgesamt
Anzahl der durchgeführten Organtransplantationen in Deutschland im Jahr 2023
Niere
Leber
Herz
Lunge
Bauchspeicheldrüse
Darm
Insgesamt
Quelle: Statista
Informative Links
Sie wünschen sich mehr Infos zum Thema Gewebespende? Wir haben nützliche Links für Sie.
Mehr aus dieser Ausgabe
Das könnte Sie auch interessieren
28. Oktober 2024
Bösartige Erkrankungen im Bauchraum erfordern eine individualisierte Therapie.
28. Oktober 2024
Zwei neue MRT-Geräte am Klinikum Braunschweig arbeiten mit Künstlicher Intelligenz (KI). Das bedeutet Zeitersparnis bei gleichzeitig bester Bildqualität. Lesen Sie mehr!
28. Oktober 2024
Gleich vier wichtige Chefarztpositionen am Klinikum Braunschweig wurden jetzt neu besetzt. Neben exzellenter Expertise geht es um zahlreiche weitere Kompetenzen. Lesen Sie mehr!
28. Oktober 2024
Im Bunker auf dem Klinikgelände Celler Straße fanden Patientinnen, Patienten und Mitarbeitende des Krankenhauses einst Schutz vor Bombenabwürfen. Lesen Sie mehr!
28. Oktober 2024
Die Sozialpädagogin Babs Breiding ist Ansprechpartnerin für alle Azubis an der Berufsfachschule Pflege. Sie unterstützt auf dem Weg in den Beruf. Lesen Sie mehr!
28. Oktober 2024
Wenn von Transplantationen die Rede ist, denken die meisten an Körperorgane. Die Gewebespende ist weniger bekannt. Erfahren Sie mehr dazu!
28. Oktober 2024
Andreas Dietrich betreut als Physiotherapeut Patientinnen und Patienten mit Erkrankungen der Atemwege, Verletzungen des Rückenmarks oder Tumoren im Gehirn. Erfahren Sie mehr dazu!
Rezeptvorschlag, Buchtipp, spannende medizinische Fragen und wichtige Veranstaltungshinweise: Lernen Sie unseren Serviceteil kennen!
28. Oktober 2024
Heike Drohberg ist Case Managerin der Neurochirurgischen Klinik. Sie koordiniert die Versorgung der Erkrankten: von der OP-Planung bis zur Nachbetreuung. Erfahren Sie mehr!
28. Oktober 2024
Schmerzen, neurologische Ausfälle und Taubheitsgefühl. Der Bandscheibenvorfall gehört zu den Volkskrankheiten. Lesen Sie mehr!
28. Oktober 2024
Ab Dezember öffnet die Zentralklinik seine Pforten. Am Tag der offenen Tür nahmen rund 1000 Besucher den Gebäudeteil Ost in Augenschein.
28. Oktober 2024
Immer wieder schwere epileptische Anfälle: Der 61-jährige Thorsten Bock ist inzwischen Stammpatient in der Notaufnahme. Lesen Sie, wie ihm am Klinikum Braunschweig geholfen wird.