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Gleichstellungsbeauftragte Es geht um Macht, fast nie um Sex

Pflege verlangt uneingeschränkten und gegenseitigen Respekt: Das Klinikum Braunschweig und seine Gleichstellungsbeauftragte Andrea Koch vertreten eine Null-Toleranz-Strategie beim Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.

Interview: Susanna Bauch

Zur Person

Andrea Koch wurde in Göttingen zunächst zur Krankenschwester ausgebildet, hat anschließend unter anderem in Kassel und Bad Lauterberg gearbeitet und ist seit 33 Jahren am Klinikum Braunschweig beschäftigt. Lange hatte sie die stellvertretende Leitung der HTG-Intensivstation (Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie) inne, bevor sie das Ideen- und Beschwerdemanagement mit aufbaute und zwölf Jahre weiterentwickelte. Seit 2017 ist sie Gleichstellungsbeauftragte. Die sehr gut vernetzte 60-Jährige hat den Bundesverband Beschwerdemanagement in Gesundheitseinrichtungen gegründet. Andrea Koch ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.

Frau Koch, sexuelle Belästigung wird als Thema seit der Me-too-Debatte verstärkt wahrgenommen und öffentlich diskutiert. Aber was genau ist unter sexueller Belästigung zu verstehen?

Vielfach wird das noch subjektiv definiert, ich halte mich als Gleichstellungsbeauftragte allerdings stets an die Definition des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes des Bundes. Demnach bezeichnet sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz jedes sexualisierte Verhalten, das von der betroffenen Person nicht erwünscht ist. Dazu zählen nicht nur verbale und physische Belästigungen, sondern auch nonverbale Formen wie anzügliche Blicke oder das Zeigen pornografischer Bilder. Besonders wichtig: Es geht um die Würdeverletzung der- oder desjenigen, der oder dem eine sexuelle Belästigung widerfährt – also um die objektive Wahrnehmung des Geschehens und nicht darum, was die belästigende Person für Absichten hatte.

Die jüngste Studie der Antidiskriminierungsstelle macht deutlich, dass dieser umfassende Schutz wichtig ist: 62 Prozent der Befragten erlebten Belästigungen in Form von sexualisierten Kommentaren, 44 Prozent berichteten von unerwünschten Blicken oder Gesten und 26 Prozent von unerwünschten Berührungen.

Wie häufig kommt es im Klinikum zu sexueller Belästigung Mitarbeitender durch Erkrankte oder deren Angehörige? Und warum ist der Gesundheitssektor von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz besonders betroffen?

Eine genaue Zahl liegt nicht vor. Jede und jeder der Mitarbeitenden geht mit derartigen Übergriffen anders um und Belästigungen werden nicht immer gemeldet. Wir gehen davon aus, dass wöchentliche Fälle die Regel sind. Bei sexueller Belästigung geht es fast nie um Sex, sondern um Macht, das haben zahlreiche wissenschaftliche Studien ergeben. Grundsätzlich gilt: Jede Person kann Opfer sexueller Belästigung werden. Die Mitarbeitenden in der Pflege sind zum Großteil weiblich, vor allem jüngere Frauen, Auszubildende, aber auch Mitarbeiterinnen mit Migrationshintergrund sind oft betroffen. Des Weiteren kommt man in der Pflege den Patientinnen und Patienten ja mitunter sehr nah – etwa bei der Körperhygiene. Die Mehrzahl der Belästigungen geht von Männern aus.

Zu welchen Vorfällen ist es im Klinikum schon gekommen?

Zunächst einmal: Jeder unerwünschte Kontakt ist grenzüberschreitend und erniedrigend. Oft geht es um anmaßende Sprüche gegenüber der Pflegefachkraft, es ist aber auch schon vorgekommen, dass bei der Blutabnahme der Arm der Pflegerin gestreichelt oder beim Duschen masturbiert wurde. Gerade in Nachtschichten, wenn Ruhe auf den Stationen herrscht und weniger Mitarbeitende im Dienst sind, kann es zu mehr Vorfällen kommen.

Zur Person

Andrea Koch wurde in Göttingen zunächst zur Krankenschwester ausgebildet, hat anschließend unter anderem in Kassel und Bad Lauterberg gearbeitet und ist seit 33 Jahren am Klinikum Braunschweig beschäftigt. Lange hatte sie die stellvertretende Leitung der HTG-Intensivstation (Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie) inne, bevor sie das Ideen- und Beschwerdemanagement mit aufbaute und zwölf Jahre weiterentwickelte. Seit 2017 ist sie Gleichstellungsbeauftragte. Die sehr gut vernetzte 60-Jährige hat den Bundesverband Beschwerdemanagement in Gesundheitseinrichtungen gegründet. Andrea Koch ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.

Wie geht das Klinikum mit dieser Problematik um?

Wenn so etwas in einem Patientenzimmer geschieht, reagieren die Betroffenen ganz unterschiedlich. Manche sind völlig geschockt und wollen das Risiko einer Wiederholung nicht eingehen, andere schaffen es zunächst, verbal zu kontern. Grundsätzlich verfahren wir so, dass der oder die Vorgesetzte die übergriffige Person auf deren Verhalten anspricht und klare Grenzen aufzeigt. Betroffene können zudem zu mir in die Beratung kommen. Das Wichtigste aber sind Kommunikation und Transparenz – keine Tabus. Im Klinikum herrscht bezüglich sexueller Belästigung eine konsequente Null-Toleranz-Strategie, das ist sehr hilfreich für einen offenen Umgang mit diesen Fällen. Es kann bei Grenzüberschreitungen auch eine Verlegung erwogen werden oder sogar ein Hausverbot für die Zukunft.

Wie kann demenziellen Patientinnen und Patienten oder übergriffigen Angehörigen begegnet werden?

Aufklärung, Schulungen und Dokumentationen von Zwischenfällen sind wichtige Bausteine, die bereits in die Ausbildung gehören. Ein Verhaltensleitfaden ist zurzeit in Arbeit. Auch Menschen mit verminderter Kontrolle müssen Grenzen einhalten, wir sprechen dann über etwaige sexuelle Belästigung mit den Angehörigen und beziehen sie in die Pflege mit ein. Und wenn Besuchende sich – aus einer vermeintlichen Machtposition heraus – zu viel herausnehmen, wird ebenfalls sofort ein klares Stoppzeichen signalisiert und das Gespräch gesucht. Mitarbeitende müssen sexuelle Belästigung nicht aushalten oder als Teil ihres Berufes akzeptieren. Pflege bedeutet nicht, zu dienen. Pflege verlangt uneingeschränkten Respekt.

2023-11-20T17:48:27+01:00
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