Puls – Das Magazin für Gesundheitsinteressierte | Ausgabe 06/2022

Altersmedizin ist nur im Team erfolgreich

Am Städtischen Klinikum Braunschweig bringt das eingespielte, interdisziplinäre Team der Geriatrie alte Menschen wieder auf die Beine – und bestenfalls zurück in den Alltag. PULS beschreibt die Arbeit der Fachleute am Beispiel von Patientinnen und Patienten.

Autorin: Susanna Bauch

Behutsam mobilisieren: Ergotherapeutin Heike Neumeier unterstützt eine Patientin.

ie Unebenheiten des Untergrunds stellen eine Herausforderung dar, sind aber Teil des Trainings: Die Seniorin geht vorsichtig mit ihrem Rollator durch die Gartenanlage der Geriatrie am Städtischen Klinikum Braunschweig. Sie ist hier Patientin wegen ihres kon­stant hohen Blutdrucks und ihrer ausgeprägten Schwindelattacken mit Sturzneigung. Physiotherapeutin Sabine Büdcher behandelt die Seniorin, leitet sie an und trainiert mit ihr auf dem Weg über den Parcours, der aus Kies, Laub, Gehwegplatten und sogar Kastanien besteht, um Gangsicherheit zu erlangen. Ärzteschaft, Pflege, Mitarbeitende der Physiotherapie, Ergotherapie, Sprach- und Schlucktherapie, Psychologie sowie des Sozialdienstes und Casemanagements betreuen die Patientin gemeinsam, um sie möglichst stabil wieder in den häuslichen Alltag zu entlassen.

Interdisziplinäres Team in der Geriatrie

Das Geriatriekonzept ist multiprofessionell. „Im geriatrischen Team lassen sich Konzepte zur Förderung, Motivation und Bindung von qualifizierten oder weitergebildeten Pflegefachkräften stärker entwickeln“, sagt Chefärztin Dr. (Univ. Padua) Silvia Varotto. Vor zehn Jahren ist die Geriatrie vom Standort Gliesmaroder Straße in die Celler Straße umgezogen, seit 2022 leitet Dr. (Univ. Padua) Varotto die Klinik, in der die gebürtige Italienerin seit mehr als einem Jahrzehnt tätig ist. Die Geriatrie ist personalintensiv und steht nicht nur für Gerätemedizin. Eher kommt es auf Wissen und Erfahrung jedes einzelnen Mitarbeitenden an. „Wir behandeln gezielt funktionelle Einschränkungen“, betont Ergotherapeutin Anja Kaube. „Der Schwerpunkt der Teamarbeit liegt darauf, größtmögliche Selbstständigkeit für den Alltag wiederherzustellen. Dazu gehören Nahrungsaufnahme und Körperhygiene ebenso wie die Fähigkeit, aufzustehen, sich zu konzentrieren und mit Hilfsmitteln umzugehen.“

Behandlung in der Geriatrie ist
zeitlich begrenzt

Behandlung in der Geriatrie ist zeitlich begrenzt

In den wöchentlichen Teamsitzungen wird über jede Patientin und jeden Patienten detailliert gesprochen, dazu kommen kurze morgendliche Updates. „Die Komplexbehandlung in der Geriatrie ist zeitlich begrenzt“, erklärt Stationsleiterin Gabriele Neumann – auf 14 Tage in der Regel. Daher müssen alle Details berücksichtigt und alle Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden.

Das Fallbeispiel an diesem Vormittag ist ein älterer Herr nach einer Hüft-OP. Dr. (Univ. Padua) Varotto beschreibt einen Patienten, der eine Hüftprothese erhalten und noch Schmerzen hat, aber vor dem Eingriff selbstständig war. Ergotherapeutin Heike Neumeier merkt an, dass sich der Patient noch nicht an alle Regeln nach einer Hüftoperation halte – wie zum Beispiel das Übereinanderschlagen der Beine zu vermeiden. Physiotherapeutin Sabine Büdcher berichtet von einem sicheren Gangbild, aber einem noch unsicheren Umgang mit dem Rollator. Die Toilette könne der Patient bereits eigenständig aufsuchen. Logopädin Isabell Holthuis ergänzt, Trinkzufuhr und proteinreiche Kost seien für den Alltag besprochen worden – wichtig bei Schluckstörungen. Und Oberärztin Dr. Gesche Willjes schließlich befürwortet eine Entlassung nach Hause. „Das ist realistisch, die Schmerztherapie greift und zu Hause wartet eine tatkräftige Ehefrau.“ Auch Psychologin Kerstin Eckhardt hat keine Bedenken. „Die Patientinnen und Patienten müssen vor allem aus dem Bett“, betont Dr. (Univ. Padua) Silvia Varotto. Viele hätten bei stationärer Aufnahme etliche Begleiterkrankungen – nachvollziehbar bei einem Alter, das oft weit über 80 Jahren liegt. „Unsere Betten sind jedenfalls immer belegt“, betont Stationsleiterin Neumann.

Arbeiten Hand in Hand (von links): Heike Neumeier (Ergotherapeutin), Gabriele Neumann (Stationsleitung), Kathrin Lehmann (Pflege),
Beate Michael (Pflegeleitung),
Dr. (Univ. Padua) Silvia Varotto (Chefärztin), Jens Eilmes und
Kerstin Fricke (Pflegefachleitung), Kerstin Eckhardt (Psychologin),
Sabine Büdcher (Leitung Physiotherapie) und Isabell Holthuis (Logopädin) sind ein Teil des Teams.

Arbeiten Hand in Hand (von links): Heike Neumeier (Ergotherapeutin), Gabriele Neumann (Stationsleitung), Kathrin Lehmann (Pflege), Beate Michael (Pflegeleitung), Dr. (Univ. Padua) Silvia Varotto (Chefärztin), Jens Eilmes und Kerstin Fricke (Pflegefachleitung), Kerstin Eckhardt (Psychologin), Sabine Büdcher (Leitung Physiotherapie) und Isabell Holthuis (Logopädin) sind ein Teil des Teams.

sind für die Komplexbehandlung in
der Geriatrie in der Regel vorgesehen.

Sind die Werte okay? Beate Michael (Pflegeleitung) misst bei einer Patientin den Blutdruck.

Ältere Menschen interdisziplinär behandeln

Viele Seniorinnen und Senioren werden nach Operationen, Stürzen oder mit unspezifischem Schwindel und Sturzneigung in die Geriatrie des Städtischen Klinikums eingeliefert. Es sind alte Menschen, die manchmal dement oder depressiv, akut erkrankt, multimorbide und instabil sind. Aber auch neurologische Fälle wie Parkinson-Erkrankte oder Schlaganfallbetroffene werden in der Geriatrie behandelt. Bei Letztgenannten kommt auch Isabell Holthuis therapeutisch zum Einsatz. Ihre Aufgabe ist es, mit besonderen Übungen das Schlucken und Sprechen zu verbessern. Auch Wundversorgung und ständiges Aktivieren gehören zur Komplexbehandlung. Kathrin Lehmann, Beate Michael, Kerstin Fricke und Jens Eilmes haben die Pflegefachleitung inne. „Wir kümmern uns im Team um einen professionellen Ablauf des Aufenthaltes und haben auch die Nachsorge im Blick“, erklärt Fricke.

Geriatrie-Team hilft in den Alltag zurück

Zu Beginn des Aufenthaltes werden die Patientinnen und Patienten überdies von der Psychologin kontaktiert. „In den Gesprächen geht es um Depressionen, Ängste und Demenzdiagnostik“, erläutert Kerstin Eckhardt. Auch die Krankheitsbewältigung wird thematisiert. Ein telefonischer Kontakt vor der Entlassung mit den Hausarztpraxen gehört zum Konzept. „Zuweisende und Familie sind wichtige Partner in der Behandlung“, betont Dr. (Univ. Padua) Varotto.
Optimal ist es, wenn ältere Menschen nach Hause zurückkehren könnten. Für eine angepasste Wohnumgebung macht das Geriatrieteam konkrete Vorschläge. Dazu gehören auch Details wie Haltegriffe, Antirutschsocken und Nachtlichter. „Bei einer Woche Liegezeit verschwinden bereits bis zu 25 Prozent der Muskelmasse, nach wenigen Wochen stehen die Menschen dann nicht mehr auf“, erläutert die Chefärztin. Das gelte es gemeinschaftlich zu verhindern.
Die Seniorin mit dem Rollator hat ihren Rundgang durch den Geriatriegarten beendet. Der Schwindel ist noch da, aber sie ist nach dem Training sicherer. Eine Pflegefachkraft hilft ihr beim An- und Ausziehen der Stützstrümpfe. Die Patientin ist zuversichtlich, bald wieder nach Hause zu können. „Die alten Menschen brauchen uns“, sagt auch Chefärztin Dr. (Univ. Padua) Varotto. Ihr Team und sie stehen bereit.

Geriatrie weiterentwickeln

„Wir wollen die Geriatrie weiterentwickeln“, betont Dr. (Univ. Padua) Silvia Varotto. „Die Behandlung unserer alten Patientinnen und Patienten im Klinikum soll durch vermehrt fachübergreifend beratende Arbeit verbessert werden.“ Als Beispiel nennt sie, dass geriatrische Begutachtung und Beratung bereits in der Notaufnahme stattfinden könnten. „Ich möchte den Schwerpunkt Demenz und Delir durch interdisziplinäre Konzepte auch zur Nachversorgung aufbauen.“
Die bereits über Jahre etablierte orthogeriatrische Zusammenarbeit soll im Hinblick auf das Zwei-Standorte-Konzept zu einem Alterstraumazentrum weiterentwickelt werden. Mit der Einführung des elektronischen Medikationstools und in Zusammenarbeit mit der Klinikapotheke ließe sich zudem die Arzneimitteltherapiesicherheit steigern. Im geriatrischen Team sollen weitere Konzepte erarbeitet und interdisziplinär umgesetzt werden, um Risiken durch Mangelernährung und Sturzgefahr vorzubeugen. „Auch die Entwicklung der digitalen Teilhabe des älteren Menschen wird uns in den kommenden Jahren beschäftigen und die Hilfsmittelversorgung beeinflussen.“

Dr. (Univ. Padua) Silvia Varotto
Chefärztin der Klinik für Geriatrie
am Klinikum Braunschweig

Dr. (Univ. Padua) Silvia Varotto
Chefärztin der Klinik für Geriatrie am Klinikum Braunschweig

2022-12-23T12:06:42+01:00
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