Die Situation in der Pflege: „„Verdienst ist nicht alles“
Jeder weiß, dass in den Krankenhäusern Pflegefachkräfte fehlen – nicht erst seit der Corona-Pandemie. PULS befragt Verantwortliche des Klinikums Braunschweig zu Gegenwart und Zukunft der Pflege.
Autorin: Prem Lata Gupta
Zur Person
Ina Wegner ist als kommissarische Pflegedirektorin für die strategische Weiterentwicklung des Pflege- und Funktionsdienstes mit verantwortlich. Sie arbeitet seit November 2015 am Klinikum Braunschweig. Michael Lüdicke ist seit 33 Jahren dabei. Als Pflegedienstleitung obliegt ihm seit 2012 die strategisch-operative Steuerung und Entwicklung des Pflegedienstes von acht Kliniken und Abteilungen.
Die Pflege steht unter Druck: Was sind aus Ihrer Sicht die drei Bereiche, in denen besonders schnell Abhilfe geschaffen werden müsste?
Ina Wegner: Wir wünschen uns – auch wenn der Arbeitsmarkt schwierig ist – mehr Personal. Ich finde eine differenzierte tarifliche Bezahlung wichtig, denn die Arbeit für einen Maximalversorger ist oft anspruchsvoller als in vielen anderen Häusern. Außerdem könnten höhere Zulagen als bisher für Spät- und Nachtschichten sowie Wochenenddienste als spürbarer Anreiz dienen.
Michael Lüdicke: Wir benötigen geeignete Kindergartenplätze. Die konventionellen Öffnungszeiten haben nichts mit Bedürfnissen von Menschen zu tun, die in einer Branche arbeiten, in der Schichtdienst unumgänglich ist. Wir sind deswegen im Gespräch mit der Stadt und mit den Trägern von Kindertagesstätten. Aber es fehlt an Erziehern, und auch diese arbeiten nicht so gerne bis abends spät oder am Wochenende.
Fehlt es an Wertschätzung für die Pflege?
Ina Wegner: Über für sie klatschende Menschen haben sich die Pflegenden erst einmal gefreut. Aber es muss deutlich mehr geschehen. Die Politik muss ihren Versprechen an die Pflege nun auch Taten folgen lassen.
Michael Lüdicke: Der Gesetzgeber entscheidet etwas und es wirkt, als denke er nicht über die Konsequenzen nach. Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung gilt als guter Schritt, weil eine Person durchschnittlich weniger Erkrankte als früher versorgen muss. Aber angesichts des Fachkräftemangels bedeutet dies auch, dass die Personaldecke rein rechnerisch nur noch für 80 Prozent der Patientinnen und Patienten reicht.
Was bedeutet das konkret für das Klinikum?
Michael Lüdicke: Bei uns gilt nach wie vor der Grundsatz, dass fast nur examinierte Pflegekräfte mit dreijähriger Ausbildung am Krankenbett arbeiten dürfen. Über diesen Standard verfügen längst nicht mehr alle Häuser.
Die Pflegekammer Niedersachsen ist gescheitert, nur wenige Pflegende sind gewerkschaftlich oder berufsständisch organisiert – woran mag das liegen?
Michael Lüdicke: Es hätte mehr Zeit und positives Vertrauen vonseiten der Politik bedurft.
Ina Wegner: Verbesserungs- oder Veränderungsprozesse, um Positionen nach vorne zu tragen, erfordern jenseits des Arbeitsalltags in der Pflege zusätzlich Kraft, Zeit und Durchhaltevermögen.
Ist es realistisch, wenn der DBfK, der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe, ein Einstiegsgehalt von 4000 Euro im Monat für Pflegefachkräfte fordert?
Michael Lüdicke: Ein 200, 300 Euro höherer Monatsverdienst bringt nicht mehr Menschen in diesen Beruf. Wir erleben als Reaktion auf inzwischen bessere Bezahlung eine Tendenz bei Mitarbeitenden im Sinne von: Dann arbeite ich nicht mehr auf einer vollen Stelle, sondern nur noch zu 75 Prozent. Auch dann komme ich über die Runden.
Geht es ausschließlich um Geld? Oder gibt es andere Faktoren, die ebenfalls zählen?
Ina Wegner: Absolut. Darüber hinaus sehen Pflegende zum Beispiel verlässliche Arbeitszeiten und Dienstpläne als wichtig an, auch die individuell empfundene Arbeitsbelastung oder den Umgangston auf einer Station.
Wie muss ein Maximalversorger agieren, um seinen Bedarf an Pflegekräften zu decken?
Ina Wegner: Es gibt eine Startprämie für neue Kolleginnen und Kollegen. Wenn ich selbst am Klinikum angestellt bin und eine Person werbe, die bei uns als Pflegefachkraft anfängt, bekomme ich ebenfalls eine Prämie. Wir erhöhen die Zahl der Auszubildenden. Und wir bieten viele verschiedene Arbeitszeitmodelle – etwa um Familie und Beruf vereinbaren zu können.
Inwiefern ist es eine Lösung, größere Gruppen an Pflegekräften aus dem Ausland wie den Philippinen oder Tunesien zu engagieren?
Ina Wegner: Wir holen hoch qualifiziertes Personal ins Land, das keine drei Jahre braucht, bis es eine komplette Berufsanerkennung hat. Die Herausforderung besteht darin, dass die Krankenpflegeausbildung weltweit unterschiedlich ist. Die sogenannte Grundpflege wie Körperpflege, Nahrungsaufnahme, das Mobilisieren – das obliegt in vielen Ländern Angehörigen oder Hilfspersonal. Bei uns ist das eine Aufgabe von dreijährig examinierten Pflegekräften.
Und dann wundern sich die ausländischen Kräfte, dass sie hier dafür zuständig sind?
Michael Lüdicke: Die einen akzeptieren diese Erfordernisse. Andere haben die Haltung: „Oops, das soll ich wirklich tun?“ Wer sich darauf einlassen muss, betritt bei uns im doppelten Sinn Neuland. Aber letztlich klappt das.